Für die Herausbildung von Beziehungen im Internet gelten grundsätzlich die gleichen Regeln wie im realen Leben. Manche Vorgänge wirken in der virtuellen Umgebung allerdings stärker oder schneller.

Grundlagen der Beziehungen im Internet

Ein solches Phänomen im Hinblick auf die Kommunikation und Beziehungsbildung im Internet ist der Nachbarschaftseffekt. Dank der Unmittelbarkeit der Datenübertragung ist es möglich, mit Menschen, die sich am anderen Ende der Welt befinden, vertraut zu werden (Wallace 1999). Im täglichen Leben baut sich dieses Gefühl von Vertrautheit am schnellsten bei Menschen auf, mit denen man häufig Kontakt hat. Das können beispielsweise Arbeits- oder Studienkollegen sein. Durch die Schnelllebigkeit im Internet kann sich dieser Effekt noch verstärken. Personen, die regelmäßig den gleichen Chatroom oder das gleiche Forum nutzen, können sehr schnell eine freundschaftliche Bindung miteinander aufbauen.

Das geschieht unter Umständen auch schneller als im wirklichen Leben, da die typischen Kontakte im Internet eher kurzfristiger Natur sind. Neben dem Fakt, dass Personen eher Vertrautheit mit anderen aufbauen, wenn sie diese öfters im Netz treffen, spielen auch die Informationen eine Rolle, die über den Gesprächspartner gesammelt werden können. Menschen neigen dazu, sich zu Personen hingezogen zu fühlen, die ähnliche oder gleiche Eigenschaften haben, Hobbys pflegen oder Verhaltensweisen an den Tag legen. Im Internet reicht schon ein Bruchteil an herausgearbeiteten Gemeinsamkeiten aus, um ein vertrautes Gefühl zu erzeugen (Wallace 1999, S. 139 f.). Die häufige Nutzung des gleichen Forums kann da schon ein ausschlaggebender Punkt sein.

Auch die Reziprozität der zwischenmenschlichen Beziehungen findet sich im Online-Setting wieder. Menschen, welche merken, dass sie von anderen Personen gemocht und wertgeschätzt werden, empfinden ihrerseits wiederum eine Zuneigung zu diesen Personen (Archer 2003). In einer Offline-Umgebung wird dieses gegenseitige Wohlschätzen oft durch ein Lächeln oder eine Geste ausgedrückt. In der Netzkommunikation haben sich ähnliche Verhaltensweisen etabliert. Ein Lob für einen guten Forenbeitrag wird ebenso ein Gefühl des Geschätztwerdens zur Folge haben, wie es eine Geste in der Face-to-Face-Kommunikation hätte (Wallace 1999, S. 144 f.).

Zwei weitere Ansätze über soziale Beziehungen im Internet gehen ebenfalls davon aus, dass die Herausbildung von freundschaftlichen Gefühlen und Verbundenheit im Netz nicht unbedingt schwieriger zu bewerkstelligen ist, als bei Face-to-Face-Kontakten. Unter bestimmten Umständen kann eine Beziehung sogar wesentlich schneller aufgebaut werden (Boos 2008, S. 212). Diese Idee vertreten der Ansatz der Hyperpersonal Perspective und das SIDE-Modell. Ersterer bezieht sich zum Teil auf die Selbstdarstellung der Gesprächspartner. Diese können die Nachrichten vor dem Absenden gezielt bearbeiten, um sich im bestmöglichen Rahmen zu präsentieren. Ungewollte Informationen werden so nicht preisgegeben (Boos 2008, S. 212).

Der Empfänger der Nachricht bekommt also schon eine stark gefilterte Information über seinen Gesprächspartner, entwickelt dazu aber noch eigene übertrieben idealisierte Vorstellungen über diesen. Gerade die fehlenden Informationen über die Person des Anderen können also für eine Überbewertung der Fähigkeiten und Charaktereigenschaften des Kommunikationspartners sorgen. In einem weiteren Schritt könnten die Informationen, die der Gesprächspartner von sich preisgibt, zudem noch manipuliert sein (ebenda). Die Idee der Imagination und Simulation betrachtet den Aspekt, dass Identitäten im Netz leicht verfälscht werden können (Döring 2003, S. 167 ff). So kann der Ausbildung einer Beziehung aktiv nachgeholfen werden. Diese Möglichkeit besteht aber auch in Face-to-Face-Situationen und wird in der virtuellen Umgebung nur eine Rolle spielen, wenn die Teilnehmer sich nicht persönlich kennen.

Die Asynchronizität der meisten textbasierten Webdienste übt unter Umständen ebenfalls einen Einfluss auf die Beziehungsbildung aus. Der fehlende zeitliche Druck kann zu einem Verlauf des Gesprächs führen, der mehr beziehungsorientiert ist. Es ist nicht notwendig, „den sozioemotionalen Austausch gegen die Orientierung an der Aufgabe ab[zu]wägen“ (Boos 2008, S. 212). Im Rahmen dieses Ansatzes spielt auch die bereits erwähnte Reziprozität eine Rolle. Diese wird durch die Feedbackmöglichkeiten des Internets umgesetzt. Eine positive Grundannahme gegenüber dem Gesprächspartner wird dann auch zu einem positiven Feedback und einer daraus folgenden Bestätigung der Grundannahme führen. Es liegt also eine Art selbsterfüllende Prophezeiung vor, die eine schnellere Beziehungsbildung begünstigt (Boos 2008, S. 212).

Das Modell der Social Identity Deindividuation, oder kurz SIDE, geht von einer Beziehungsbildung anhand von Gruppenprozessen im Netz aus. Das Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten Gruppe und die damit einhergehende Verbundenheit zu deren Mitgliedern können im Internet ähnlich stark ausfallen wie in anderen Umgebungen. Die Identifikation mit dieser virtuellen Gruppe kann sogar stärker wirken. Das liegt vor allem an dem Fakt, dass sich die Teilnehmer der Kommunikation nicht sehen können und räumlich getrennt sind (Boos 2008, S. 213) Die Mitglieder einer Gruppe im Internet tendieren, wie im realen Umfeld dazu, die Eigenschaften dieser Gruppe als die eigenen zu übernehmen. Weiterhin werden die einzelnen Mitglieder einer fremden Gruppe automatisch auf die universellen Eigenschaften dieser Gruppe reduziert. Dieses Phänomen wird auch als Deindividuation bezeichnet (ebenda).

Dazu gehört auch die Definition der eigenen Person anhand der Eigenschaften der Gruppe. Die Anonymität im Netz sorgt dafür, dass die Individuen mit ihren Eigenschaften nur schwer wahrgenommen werden können und deswegen viel schneller anhand der Eigenschaften der Gruppe, welcher sie angehören, kategorisiert werden (Boos 2008, S. 213). Die Überlegungen zu den psychologischen Grundlagen der Kommunikation im Internet sollen unter anderem für die Beantwortung der Frage nach den Beziehungen im Netz dienlich sein. Die Möglichkeit, stabile Beziehungen zu realisieren, würde das Internet auch als therapeutisches Medium in Betracht kommen lassen. Die große Zahl an Social Communities und Singlebörsen lässt erahnen, welche Rolle soziale Beziehungen im Internet spielen können. Auch die Übermittlung von Gefühlen ist in der netzbasierten Kommunikation prinzipiell möglich. Weitergehend stellt sich also die Frage, ob diese limitierten Möglichkeiten der Gefühlsübermittlung für eine Beratung im Netz ausreichen. Auch die Möglichkeit zur Ausformung eines therapeutischen Verhältnisses muss untersucht werden.